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"Was stimmt denn nicht mit mir"

Rosas Geschichte

Mädchen kritischer Blick schwarz weiß Foto
Foto: Emel Coban-Kraus

Rosa sass im Sessel vor mir und war nicht da.

 

Beinahe teilnahmslos und fast flüsternd erzählte sie von einem treffen ihrer Clique auf dem Wochenmarkt. Sie wollten ein wenig zusammen rumhängen, den Samstag genießen.

 

Das Wetter war wunderbar, es war besonders heiß, überall waren Menschen, Stimmen, Lachen. Es duftete nach Burgern, nach Blumen und Kaffee. Jemand aus der Clique hatte zwei Bekannte mitgebracht, die Rosa noch nicht kannte. Die Beiden begrüßten sie und unterhielten sich kurz mit ihr. Sie schienen ganz interessiert und stellten Rosa Fragen. Sie konnte dem Gespräch kaum folgen. Es rauschte in ihren Ohren, der Kaffeeduft bereitete ihr plötzlich Übelkeit und ihr wurde so schwindelig, dass sie bemerkte, wie Panik in ihr aufstieg.

Die beiden Neuen schauten sie fragend an, fragten ob alles in Ordnung sei. Rosa konnte nicht mehr sagen, ob sie das tatsächlich gefragt haben oder ob sie nur dachte, dass sie gefragt haben. Sie versuchte ihre Situation zu überspielen und suchte nach einer Antwort.

Aus den Blicken der Anderen erkannte sie, dass sie wieder etwas angestellt hatte. Irgendetwas war vorgefallen. Ihre beste Freundin fragte, ob sie nach Hause möchte.Sie sagte ihr dann später, Rosa habe minutenlang starr dagestanden, am ganzen Leib gezittert, ihre Augen hätten sich wie verrückt im Kreis gedreht und dann am Ende hätte sie irgendetwas gesagt, das keinen Sinn ergab. Da sie das bei Rosa bereits kannte, wusste sie, dass Rosa jetzt raus aus der Menge musste. Am besten nach Hause in ihr Zimmer. Tür schließen, Ruhe und die Heizung runterdrehen. 

 

Rosa war als Kind auf einem Marktplatz irgendwo im Süden Europas zurückgelassen worden. Sie war damals zwischen 2 und 3 Jahre alt. Ihre Mama hatte sie auf dem Platz in die Nähe eines Brunnens gesetzt und hatte sie dann nicht mehr abgeholt. Sie wurde mehrmals übergangsweise zu Pflegeeltern vermittelt, bis sie dann irgendwann in ein Kinderheim kam. Irgendwann wurde sie von einer Familie adoptiert und kam mit der Familie nach Deutschland.

 

 

Wenn der Alarm wieder ausgelöst wird

Alles schien gut. Bis sie vor zwei Jahren auf einem Trödelmarkt überfallen wurde. Zwei Männer waren beteiligt. Einer hatte sie in ein Gespräch verwickelt, der Andere hat versucht ihr die Tasche zu entwenden. Sie hatte es bemerkt und es kam zu einer Rangelei, bei der sie leicht verletzt wurde. Seitdem ist alles anders sagt sie. Sie hat bereits zwei Kurzzeittherapien hinter sich und zunächst schien alles wieder gut zu sein. Doch bald kam die Panik. Sie kann nicht mehr schlafen, hat oft Herzrasen. Sie weiß nicht wieso. Sie weiß manchmal nicht mehr, wo sie ist. Sie kann Gesprächen nicht mehr folgen, alles rauscht an ihr vorbei, sie zittert am ganzen Leib und sie kann auch nicht mehr sprechen.

 

Sie ist komplett in ihrer Schleife gefangen. Mit jedem Satz scheint ihre Lage aussichtsloser.

Und dann kommen diese verzweifelten Worte:

 

„Es ist doch alles wieder gut! Wieso kann ich nicht normal sein? Was stimmt denn nicht mit mir?

 

Mit dir ist alles in Ordnung. Du, Dein Körper, Dein Nervensystem, alle haben perfekt reagiert.

 

Ein ungläubiges Staunen und ich merke, wie Rosa plötzlich wieder ganz wach und neugierig wieder bei mir im Raum ist. Sie hat ein großes Fragezeichen im Gesicht und schaut mich erwartungsvoll an. Sie glaubt mir kein Wort, aber ich habe ihre Aufmerksamkeit.

Negativschleife unterbrechen

Mein erstes Zwischenziel ist erreicht:  Sie ist für einen Augenblick aus ihrer Negativschleife getreten, in der sie sich verheddert hatte.

 

Diese verdutzte Reaktion und die kleine Pause bieten mir die Gelegenheit, um ihr eine Information zu geben, die sie zum Nachdenken bringen soll. Die Erklärung nach der Information fällt sehr individuell aus, je nachdem, was der traumatische Hintergrund meiner Klientin ist. 

 

Ich frage Rosa:

 

Wusstest du, dass dein Nervensystem viermal pro Sekunde checkt, ob die Situation und die Umgebung sicher ist?

Ihr Blick wird erstaunter und sie fragt überrascht: „Wirklich?“ 

 

Ich möchte, dass sie es besser versteht:

Darf ich es dir veranschaulichen?

Sie nickt.

 

Ich klatsche im Sekundentakt in die Hände und bitte Rosa dazwischen bewusst und übertrieben viermal um sich zu schauen und auch viermal „sicher-sicher-sicher-sicher!“ zu sagen. Ich gebe ihr dann Zeit, damit sie die neue Information erfassen kann. Ich atme langsam lang und tief aus. Sie atmet mit mir aus. 

 

Als nächstes gehe ich auf Rosas individuelle Geschichte ein und wir gehen bewusst durch, auf was ihr Nervensystem wohl alles achten wird: „Was ist sicher?“ „Was ist gefährlich?“

 

Dein Nervensystem stuft zunächst alles als gefährlich ein, was direkt  mit den Ereignis zu tun hatte. Alles was zu dem Zeitpunkt mit deinen Sinnen wahrnehmbar war. Bewusst und unbewusst:

Menschenansammlungen, Stimmengewirr, Lärm, Sonne, Musik, Duft, Alkohol und Blumen auf den Balkonen, Motorroller, Zigarettenrauch.

Nervensystem mitteilen, dass es jetzt wieder sicher ist

Die oberste Priorität deines Nervensystems ist dein Überleben. Wenn es nun aus irgendeinem Grund keine Info bekommen hat, dass das Ereignis vorbei ist, bleibt es immer auf Alarmbereitschaft. Oder aber, es war bereits in Alarmbereitschaft und nun wurde es erneut aufgeweckt. Jetzt verknüpft es alte Gefahren-Ereignisse mit den neuen und macht daraus eine neue Liste. Und um ganz sicher zu sein, nimmt dein Nervensystem jetzt noch alles mit auf die Liste, was so ähnlich war, oder in irgendeiner Weise an das eine oder andere Ereignis erinnert.

 

Das heißt, dass mein Nervensystem jetzt viermal die Sekunde checkt und Gefahr signalisiert, wenn viele Menschen unterwegs sind, es nach Kaffee oder Burger riecht oder nach Essen und Trinken überhaupt und dass Lärm und Hitze und neue Bekanntschaften jetzt Alarm auslösen?…Krassss!

 

Diese ständige Alarmbereitschaft kostet deinen Körper sehr viel Kraft und Energie.

 

„Das hat mir bisher Niemand so erklärt. Jetzt macht auch alles Sinn! Ja, kein Wunder, dass ich immer nur müde bin, mich nicht konzentrieren kann und superschnell nervös werde, wenn ich eine Situation nicht vorhersehen kann. Und wenn ich grundlos Angst bekomme, heißt das, dass mein Nervensystem etwas erkannt hat, was auf  seiner Gefahrenliste steht?"

Ich nicke.

Wie kann ich denn aber meinem Nervensystem mitteilen, dass es jetzt wieder sicher ist für mich?

 

Gut, dass du fragst…

Mein schönster Moment

Einer der schönsten Momente für mich ist, wenn eine Klientinnen beginnt, selbst zu bemerken, wenn sie wieder in die negative Spirale rutscht. Und wenn sie dann berichtet, dass sie es selbstständig geschafft hat, eine Angstsituation wahrzunehmen und zu verlassen, kennt meine Freude keine Grenzen mehr. Das ist mein Ernst.

 

Meistens schaue ich meine Klientin dann an und sehe, wie sie sich freut, sich selbst aber noch nicht ganz traut. Sie weiß, es wird auch wieder einen Schritt zurück geben. Aber trotzdem nutzen wir diesen kleinen Funken, um ihn zu feiern. Ich helfe ihr diesen Augenblick ganz bewußt mit allen Sinnen wahrzunehmen: Egal, wie es morgen wird, sie hat mutig einen weiteren Schritt getan, der ihr eine Spur Zuversicht verleiht und das feiern wir: Heute, hier und jetzt!

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Kommentare: 1
  • #1

    Jessica (Sonntag, 25 April 2021 19:51)

    Toller Beitrag, und tolle Arbeit die Du leistest!